Der Begriff „Geragogik“ besteht aus den altgriechischen Worten „geraios“, was mit „alt“ oder „hochbejahrt“ übersetzt werden kann, und „agos“, was so viel heißt wie „ich führe hin, ich zeige den Weg“. Geragogik ist also die Wissenschaftsdisziplin der fördernden Begleitung älterer Menschen. Sie erforscht Bildungsprozesse in der zweiten Lebenshälfte, entwickelt und erprobt Bildungskonzepte mit Älteren und für das Alter und bringt diese in die Aus-, Fort- und Weiterbildung für die Arbeit mit Älteren ein.
Was fasziniert Sie an diesem Themenfeld und wie kamen Sie zur Musikgeragogik?
Ich bin begeistert davon, dass sich Geragoginnen und Geragogen in ihrer Arbeit am Leitbild von Menschenwürde und Partizipation im Alter orientieren.
Außerdem geht die Geragogik davon aus, dass das Alter eine eigene, wertvolle Phase im Lebenslauf darstellt, in der sich Menschen weiterentwickeln, Neues lernen und ihre Identität weiter entfalten können. In meiner Arbeit als Kirchenmusikerin habe ich mit Menschen jeden Alters, besonders auch mit vielen älteren und alten Menschen zu tun. Sie besuchen Konzerte und Gottesdienste, leiten Chöre, nehmen Orgelunterricht und sind als Sängerinnen und Sänger bzw. Musizierende in den Kirchengemeinden aktiv. Da war es ein logischer Schritt, mich als studierte Musikpädagogin auch im Fachbereich Musikgeragogik zu qualifizieren, um den Bedürfnissen meiner älter werdenden Musikerinnen und Musiker sowie Gemeindeglieder gerecht werden zu können.
Worauf legen Sie persönlich dabei am meisten Wert?
Mir ist es sehr wichtig im Austausch, im Dialog mit den Musizierenden zu sein, zum Beispiel zu ihren musikalischen Wünschen und Zielen. Um dann gemeinsam zu überlegen, auf welchen Wegen und mit welchen Angeboten, Maßnahmen oder Hilfestellungen diese Ziele erreicht werden könnten. Dabei orientiere ich mich immer an den vorhanden Kompetenzen, sodass anstelle von altersbedingten Defiziten die bestehenden Möglichkeiten der Seniorinnen und Senioren in den Vordergrund treten.
Der Fachbegriff ist erst rund 60 Jahre alt. Kam die Notwendigkeit, sich mit Menschen höheren Alters wissenschaftlich zu beschäftigen, erst auf, weil wir inzwischen eine höhere Lebenserwartung haben?
Die höhere Lebenserwartung ist das eine. Es ist ja heutzutage keine Seltenheit mehr, dass zwischen dem Ende der aktiven Berufstätigkeit und dem Tod, also die Lebensphase, die man früher mit „Alter“ bezeichnete, 30 oder mehr Jahre liegen. Das andere ist die veränderte Haltung der Menschen in ihrer nachberuflichen Phase: Sie wollen ihr Leben genauso bewusst gestalten wie vorher, sich womöglich neu orientieren, etwas Neues lernen. Viele wollen ein aktiver Teil der Gesellschaft bleiben und sich mit ihren Gaben in vielfältiger Weise einbringen.
Was kann Musikgeragogik dazu beitragen?
Musikgeragoginnen und -geragogen ermöglichen Musik für und mit Menschen in allen Lebenslagen und Lebensphasen im Alter. Sie streben danach, Ältergewordenen angemessene Zugänge zum aktiven Musizieren und zu musikalischer Bildung zu erhalten oder neu zu schaffen. Dadurch wird es z. B. möglich, dass Musizierende auch im fortgeschrittenen Alter weiterhin oder erstmals im Chor singen, im Orchester spielen oder ein Ensemble leiten. Sie bleiben uns als Gesellschaft somit als wertvolle Kulturträger erhalten und können umgekehrt bis ans Lebensende „am kulturellen Leben der Gemeinschaft“ teilnehmen und „sich an den Künsten […] erfreuen“, wie es in Artikel 27 Absatz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt. Aus diesem Menschenrecht und dem Artikel 24b der UN-Behindertenrechtskonvention, der Menschen mit Behinderung das Recht zuspricht, „ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung [zu] bringen“ begründet sich die Fachdisziplin Musikgeragogik.
Was wäre, wenn es sie nicht gäbe?
und Theorie der Musikgeragogik könnten wahrscheinlich weniger Menschen im höheren Lebensalter Musik genießen oder selbst aktiv musizieren, als es heute der Fall ist. Dann gäbe es vermutlich keine zielgruppenspezifischen musikalischen Angebote, wie z. B. Seniorenchöre oder Konzerte für Menschen mit De-menz, und keine Unterrichtsangebote für ältere Anfänger am Instrument. Ich bin sehr froh darüber, dass sich immer mehr Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen musikalischen Arbeitsfeldern mit den Prinzipien der Musikgeragogik auseinandersetzen und sie in ihre Arbeit aufnehmen.
Haben sich die Anforderungen und Bedürfnisse im Spektrum der Musikgeragogik in den letzten Jahrzehnten verändert und wenn ja, inwiefern?
Wie jede Aktion im sozialen und kulturellen Bereich spiegelt natürlich auch die Musikgeragogik den aktuellen Zeitgeist zu einem gewissen Grad wider. Ein zentrales Element der musikalischen Wegbegleitung im Alter ist ja der alte Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen im Hier und Jetzt. So stellen wir in unserem Fachverband fest, dass sich das musikgeragogische Angebotsspektrum in den letzten 20 Jahren enorm ausdifferenziert hat. Es reicht momentan von Instrumentalunterricht und Amateurmusizieren im Klassik- und Rockbereich über Seniorenchöre, Demenzchöre, Rhythmik, Tanz und Konzerten bis hin zu elementarmusischen (intergenerativen) Gruppenangeboten, Einzelbetreuung in unterschiedlichen Kontexten und musikalischer Sterbebegleitung. Diese Bandbreite ist wichtig und richtig, um allen Seniorinnen und Senioren, die dies möchten, einen geeigneten Zugang zu Musik bieten zu können.
Ansprechpartner, Literatur etc.
Ansprechpartner, Literatur, Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie aktuelle Informationen finden Sie u. a. auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Musikgeragogik: www.dg-musikgeragogik.de